Das Alte Testament – unbequem, aber unverzichtbar

Viele Christen behandeln das Alte Testament wie ein altes Familienalbum, das man lieber im Schrank lässt, weil die Bilder peinlich wirken. Gewalt, Gesetz oder Gericht – all das scheint nicht zum „freundlichen“ christlichen Glauben zu passen. Doch Christus sagt: „Denkt nicht, ich sei gekommen, um das Gesetz und die Propheten aufzuheben! Ich bin nicht gekommen, um aufzuheben, sondern um zu erfüllen. Amen, ich sage euch: Bis Himmel und Erde vergehen, wird kein Jota und kein Häkchen des Gesetzes vergehen, bevor nicht alles geschehen ist. Wer auch nur eines von den kleinsten Geboten aufhebt und die Menschen entsprechend lehrt, der wird im Himmelreich der Kleinste sein. Wer sie aber hält und halten lehrt, der wird groß sein im Himmelreich“ (Mt 5,17-19). Ohne das Alte Testament zu berücksichtigen, wird das gepredigte Evangelium verstümmelt.

Das verzerrte Bild des Gesetzes

Das Gesetz Israels gilt heute vielen Christen als ein Relikt, das nur zeigt, wie streng und unnahbar Gott gewesen sei. Doch wer so spricht, liest es wie ein Fremder und hat es nicht verstanden. Das Gesetz war keine kalte Vorschrift, es war die Gestalt des Bundes, durch den Gott sein Volk zu sich ruft und formt. Bis heute: „Die Weisung des HERRN ist vollkommen, sie erquickt den Menschen. Das Zeugnis des HERRN ist verlässlich, den Unwissenden macht es weise“ (Ps 19,8). Das ist die dauerhafte Zusage Gottes. Er selbst will sein Volk in seine eigene Heiligkeit hineinziehen. Wer daraus nur einen moralischen Zwang macht, verfehlt den Kern und was es bedeutet, erwählt zu sein.

Die Propheten erleiden dasselbe Schicksal wie das Gesetz des alten Bundes. Man reduziert sie auf ihre Gerichtsworte, als seien sie nur Rufer des Untergangs. Doch ihre Botschaft war dynamitgeladen. „Ich hasse eure Feste, ich verabscheue sie und kann eure Feiern nicht riechen“ (Am 5,21) ruft z. B. Amos Israel ins Gericht. Hier geht es nicht um Drohungen, hier geht es um die Zerstörung falscher Religion bzw. ihrer Ausübung. Die Propheten legen den Finger genau in die Wunde: Frömmigkeit ohne Gerechtigkeit, Gottesdienst ohne Herz und Worte ohne Glauben. Das ist kein Zorn ohne Grund, das ist göttliche Klarheit. Falsche Frömmigkeit wird aufgeschnitten, gottlose Rituale zerstört und das leere Wort entlarvt. Diese Botschaften waren nie bequem – und sie bleiben es nicht, auch nicht für die Kirche von heute. Denn die Propheten sind der Schlüssel zu Christus selbst und ohne sie bleibt die Tür verschlossen.

Das Alte Testament im christlichen Licht

Schon die ersten Generationen von Christen hatten Mühe mit dem Alten Testament. Manche wollten es streichen, um den neuen Glauben von der „Last“ des jüdischen Erbes zu befreien. Augustinus, nur um einen zu nennen, hat das entschieden zurückgewiesen: „Das Neue Testament liegt im Alten verborgen, das Alte wird im Neuen aufgedeckt/offenbar“ (Quaestiones in Heptateuchum 2, 73). Für ihn war klar: Christus ohne Gesetz und Propheten wird zu einer Erfindung und nicht zum Sohn des lebendigen Gottes.

Die Gefahr der Marginalisierung des Alten Testaments ist heute nicht kleiner. Viele predigen ein Evangelium, das von der Geschichte Israels abgetrennt ist – als ob Jesus vom Himmel gefallen wäre, losgelöst von den Verheißungen, die ihn ankündigen. Der Gott des Alten Bundes ist derselbe wie der Gott des Neuen. Ein Bruch mit dem Alten Testament macht den Gott Jesu Christi zum Fremden. Und ja, es ist bequemer, die unbequemen Texte zu ignorieren, doch dadurch verwandelt man das Evangelium in eine weichgespülte Moralreligion, heimatlos und unkonkret. Der Glaube verliert seinen Boden, wenn er nicht mehr im Bund wurzelt. Und wir dürfen das nie vergessen: Gott hat ihn niemals gekündigt.

Der Spiegel des Glaubens

Das Alte Testament ist der Spiegel, in dem wir die Wahrheit über uns selbst sehen. Es deckt auf, wie fromme Rituale zur Lüge werden und wie schnell der Mensch Gott kleinrechnet und sich von ihm abwendet. „Dein Wort ist meinem Fuß eine Leuchte, ein Licht für meine Pfade“ (Ps 119,105) – das umfasst die ganze Schrift, nicht nur die Seiten, die uns gefallen. Sich den unbequemen Texten zu entziehen, verschließt den Zugang zu Christus. Gelesen im Glauben reißt es Illusionen nieder und zeigt unmissverständlich, auf welchem Weg die Kirche heute wirklich lebt.

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